Erklärung der Black Flag Group für die Liverpooler Konferenz der Anarchist Federation of Britain, September 1968

Text von Black Flag, die Übersetzung ist von uns. Alle Ausgaben ihrer Publikation hier zu finden.

Black Flag

Erklärung der Black Flag Group für die Liverpooler Konferenz der Anarchist Federation of Britain, September 1968

Der Anarchismus ist eine revolutionäre Methode, um eine freie, gewaltfreie Gesellschaft ohne Klassenunterschiede und ohne Autorität zu erreichen. Ob dies eine „utopische“ Errungenschaft ist oder nicht, ist unerheblich; der Anarchist oder die Anarchistin ist nach einer normalen Definition jemand, der oder die dieses Ziel vor Augen hat, sich von autoritären Strukturen befreit und auf eine solche Gesellschaft zusteuert, indem er oder sie die Menschen vom Staat unabhängig macht und den Klassenkampf intensiviert, damit die Mittel der ökonomischen Ausbeutung geschwächt und zerstört werden.

Verwirrung

Anarchismus und Liberalismus sollten nicht miteinander verwechselt werden, auch wenn letzterer militant ist (z. B. bei nationalen Befreiungsbewegungen). Der Liberale sucht die Freiheit innerhalb der Gesellschaftsstruktur, in der er sich befindet; er lehnt die Methoden des Klassenkampfes ab, die sich auf die ökonomische Spaltung der Gesellschaft beziehen. Da es jedoch eine solche Verwirrung gibt, stellen wir fest, dass es mittlerweile ZWEI gegensätzliche Auffassungen von Anarchismus gibt.

Es gibt nicht „so viele Konzepte wie Anarchistinnen und Anarchisten“ und auch nicht „tausend Fragmente“, aber es gibt ZWEI, die wahrscheinlich beide auf dieser Konferenz vertreten sind. Die eine, die wir unterstützen und der wir als Organisation Kohärenz verleihen wollen, ist das, was wir als revolutionären Anarchismus bezeichnen (obwohl Anarchismus eine solche Qualifizierung nicht nötig haben sollte), der besagt, dass es keinen Kompromiss mit dem Staat geben kann, dass es einen Klassenkampf gibt und dass es nichts zu gewinnen gibt, wenn man sich der Klassengesellschaft anpasst. Es kann nur eine Revolution geben, auf den Straßen und in den Fabriken. Die andere Auffassung bezeichnen wir als liberalen Anarchismus (auch wenn er sich selbst als revolutionär betrachtet, während er das Wort normalerweise eher verhöhnt), der versucht, sich an die heutige Gesellschaft anzupassen, ohne den Staat stürzen zu müssen (was als unwahrscheinlich gilt). Eine solche Anpassung kann natürlich an den Kapitalismus oder sogar an den Staatskommunismus erfolgen; und es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie sie aussehen könnte.

Friedensbewegung

Hierzulande sind solche sozialliberalen Ideen vor allem über die Friedensbewegung in die anarchistische Bewegung gekommen, die bestimmte anarchistische Grundkonzepte in Frage gestellt oder vielleicht nie verstanden hat. Damit wollen wir nicht bestreiten, dass Pazifisten Anarchisten und Anarchistinnen sein können (auch wenn wir sie aus Gründen einer kohärenten Aktion aus unserer eigenen Gruppe ausschließen würden). Solange ihr Standpunkt nicht zur Hauptströmung wird, können wir ohne Zweifel mit ihnen innerhalb der AFB zusammenarbeiten.

Wir halten das Prinzip des Pazifismus für irrelevant und im Großen und Ganzen für unanarchistisch (ebenso wie einen Kult um Mäßigung oder Vegetarismus oder das Kiffen oder den „Ausstieg“ (A.d.Ü., aus der Gesellschaft) zu machen – das sind alles Angelegenheiten, die persönliche Entscheidungen betreffen und die zwar oft von den wichtigsten sozialen Fragen ablenken, aber nur dann absurd werden, wenn sie zu einem Kult gemacht werden, dem alle folgen sollen, und wenn sie zur wichtigsten sozialen Frage unter uns und in der Gesellschaft als Ganzes erhoben werden, während Themen wie der Klassenkampf in den Hintergrund treten oder ignoriert werden). Das Problem, mit dem wir auf dieser Konferenz konfrontiert sind, ist jedoch NICHT der Pazifismus an sich, sondern die Tatsache, dass er die Tür für so viele liberale Annahmen geöffnet hat. Zum Beispiel, dass Gefängnisse reformiert werden können und nicht abgeschafft werden dürfen (Vine1; Willis); dass wir so weit gehen sollten, Geld für Polizisten zu sammeln, die bei Demonstrationen verletzt werden (Featherstone)2; dass die Polizei eine notwendige Krücke für die Gesellschaft ist (Rooum)3; dass Kriminelle die einzigen freien Menschen sind, aber dass wir die Dienste der Polizei in Anspruch nehmen sollten, wenn es nötig ist (Schweitzer-Mariconi)4.

Liberalismus

Sobald man akzeptiert, dass „der Anarchismus mit der heutigen Gesellschaft in Verbindung gebracht werden muss“, also mit dem Kapitalismus ([Colin] Ward), kann man die Beteiligung an der Verwaltung akzeptieren (Topham bis Ostergaard)5; oder die Notwendigkeit psychologischer und soziologischer Anpassungen an das Leben im erbarmungslosen Konkurrenzkampf (various, Anarchy); oder dass Steuern notwendig sind, um den ärmeren Klassen zu helfen ([Vernon] Richards); oder dass wir uns lediglich in einem Zustand des permanenten Protests gegen Missstände in der Gesellschaft befinden müssen (Sydney Libertarians); uns an gewaltfreie Methoden anpassen müssen (Peace News) oder an autoritäre Körperschaften wie die katholische Kirche ([Ammon] Hennacy) oder sogar unseren Frieden im kommunistischen Staat machen müssen (Jeff Robinson)6.

Ein so verwässerter Anarchismus kann von der Monarchie anerkannt werden ([Sir Herbert] Read) oder mit dem Wählen der Labour Party vereinbar sein ([George] Melly); oder er kann auf einen bloßen imaginären Denkprozess reduziert werden, der zu einer intellektuellen Erlösung führt (various, Minus One)7. Diejenigen, die das revolutionäre Konzept ablehnen, können verschiedene Ansichten haben, die von einer Ablehnung der zeitgenössischen Werte und einem bloßen Ignorieren des Staates in der Hoffnung, dass er verschwindet (Hippies, Diggers) bis hin zu einer bewussten Provokation des Staates reichen, damit er seine vollen repressiven Kräfte einsetzt, ohne sich jedoch auf einen wirksamen Widerstand vorzubereiten (einige zumindest der Provo-Situationisten).

Wir erkennen das, was wir als Liberalen Anarchismus bezeichnen, nicht als echten Anarchismus an, aber da es ihn gibt, sind wir gezwungen, uns als Revolutionäre Anarchisten zu bezeichnen. Wir wissen nicht, inwieweit es in der AFB eine allgemeine Übereinstimmung mit uns gibt. Unser Ziel ist es, eine Mitgliederorganisation innerhalb der AFB und der lokalen Gruppen zu sein. Wenn wir andererseits den Großteil der Mitglieder der AFB vertreten, gibt es keinen Grund, warum die Organisation unser Programm nicht übernehmen kann. Zumindest diejenigen, die die Kontroversen in der libertären Presse verfolgt haben, werden wissen, worum es in diesem Flugblatt geht. Diejenigen, die aufgrund ihrer heutigen Erfahrungen den Namen Anarchistin und Anarchist ablehnen, weil sie meinen, sie würden sich mit dem identifizieren, was wir hier Liberale Anarchistinnen und Anarchisten nennen, sind eingeladen, ihre Position zu überdenken

International

Die internationale Situation ähnelt der britischen, nur dass dort die Tendenz, sich in den Rahmen der Gesellschaft einzufügen, von einem institutionalisierten Syndikalismus herrührt oder die Exilbewegungen bürokratisiert wurden. Darum ging es bei dem Zusammenstoß in Carrara8. Aber es war auch ein Konflikt zwischen einer revolutionären Politik und einer Politik des „Sich-Einfügens“. Unser Ziel ist es, ein revolutionäres Programm zu erarbeiten, und zwar als Gruppe, die kein vorgefertigtes Programm zur Organisation der Arbeiterklasse hat, sondern das Prinzip der direkten Aktion akzeptiert und mit den Menschen auf der Grundlage ihrer Überzeugungen und Aktionen zusammenarbeitet und nicht auf der Grundlage der bloßen Etiketten, die sie sich selbst geben, wobei wir jedoch unsere eigene Identität bewahren.

(Originalunterzeichner) A. Meltzer, Ross Flett, Adrian Derbyshire, Stuart Christie, Roger Sandell, Mike Walsh, Jim Duke, Ted Kavanagh

Wir bitten um Kommentare zum Entwurf der „Aims & Principles of Anarchism“.

Herausgegeben von der BLACK FLAG GROUP, 735 Fulham Road, London, S.W.6.

Die erste Konferenz der „Black Flag“-Gruppe wird im Herbst in Brighton stattfinden. Diskussion über die Gründung einer weiteren anarchistischen Zeitung.

Anmerkungen

Wie aus dem Text hervorgeht, reagiert er auf verschiedene Auseinandersetzungen in der anarchistischen Presse, insbesondere in Freedom and Anarchy. Es ist mir nicht gelungen, alle Beteiligten zu identifizieren und alle Aussagen aufzuspüren. (A.d.Ü., der Text endet abrupt an dieser Stelle)


1Ian Vine schrieb über Verbrechen und das Gesetz in Anarchy 59 & ‚Anarchism as a realist alternative‘ Anarchy 74

2Siehe den Brief von Godfrey Featherstone in Freedom vom 20. April 1968 und die Antworten von Stuart Christie, Adrian Derbyshire, James Duke, Ross Flett, Albert Meltzer und Martin Page in der folgenden Ausgabe.

3In Donald Rooums Bericht über den Fall Challenor „Ich habe ein Stück Ziegelstein verlegt“ in Anarchy 36

4In Jean-Pierre Schweitzers „Prolegomena to an Anarchist Philosophy: 3 – Politics“, Minus One Nr. 13, heißt es: „Der Kriminelle ist der (An)archist „par excellence““.

5Tony Topham (Institute for Workers Control) war keine Anarchistin und Anarchist; Geoffey Ostergaard schrieb über Workers‘ Control in Anarchy Nr. 2 und 80.

6Ich habe nichts von Jeff Robinson gesehen, das dies behauptet. Sein ‚A statement‘ (u.a. ‚Innere Freiheit ist in der modernen Welt sogar in einer Gefängniszelle möglich‘) Freedom 29. Juli 1967 brachte Albert Meltzer auf die Palme: ‚Die Spaltung besteht zwischen denen, die den Anarchismus als lebendige Kraft sehen, und denen, die ihn für einen aufregenden Namen halten, wenn sie über die Notwendigkeit von Kinderspielplätzen sprechen.‘ An Understatement“ Freedom 19. August 1967.

7Minus One („Individualist Anarchist Review“) siehe https://www.unionofegoists.com/journals/minus-one-1963/

8Internationaler Kongress der Anarchistinnen und Anarchisten in Carrara, 31. August bis 3. September 1968.